Heute findet der Flüchtlingsgipfel von Kanzler Scholz und den Ministerpräsidenten der Länder statt. Was in diesem Zusammenhang zuletzt an Verlautbarungen, Einigungen und Beschlüssen seitens der Ampelkoalition zu lesen war, versetzt einen großen Teil der humanistischen und solidarischen Zivilgesellschaft in Fassungslosigkeit.
Im Koalitionsvertrag von 2021 war unter anderem eine „progressive Migrationspolitik“ beschlossen worden, ein „Paradigmen-Wechsel„, ein Ende der aggressiven und unmenschlichen Abschottungspolitik. Es hieß, Horst Seehofers „Konzept der AnkER-Zentren wird von der Bundesregierung nicht weiterverfolgt“ und „wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden“ sowie „Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden„.
In den letzten Tagen hat sich gezeigt, dass das Gegenteil der Fall ist: Erst einigte sich die Ampel auf eine Position für die im Juni anstehenden #GEAS- (‚Gemeinsames europäisches Asylsystem‘) Verhandlungen. Demnach sollen Flüchtende ein beschleunigtes #Grenzverfahren an der EU-Außengrenze durchlaufen, das eine einfachere Zurückweisung erlaubt. Die Unterbringung erfolgt in ‚Haftlagern‘, Geflüchtete gelten juristisch als noch nicht eingereist, dürfen eine Ablehnung nur einmal gerichtlich anfechten und müssen anschließend mit einer Abschiebung in nicht sichere außereuropäische Drittstaaten rechnen.
Ein faires Asylverfahren wird unter derartigen Bedingungen nicht mehr möglich sein. Haftlager an den Außengrenzen bedeuten Isolierung, die Unmöglichkeit, einen Rechtsbeistand einzuschalten, inhumane Lebensbedingungen und massenhafte Zurückweisungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Das Ziel dieser Grenzverfahren ist die Abwehr von Geflüchteten durch Abschreckung, Zurückweisung, Schikane und Kriminalisierung. Es geht ausschließlich um die Reduzierung von Zahlen – Fluchtgründe, Einzelfallprüfungen und Menschenrechtskonventionen bleiben auf der Strecke.
Bundeskanzler Scholz legte kürzlich mit einem internen Papier nach, indem er mehr und schnellere Abschiebungen ankündigt, durch eine Ausweitung der Abschiebehaft, längeren Ausreisegewahrsam, durch einfacheren Zugang für Behörden zu Gemeinschaftsunterkünften und etliche weitere Einschränkungen von Geflüchteten, die wie Kriminelle behandelt werden. Dabei ist die Abschiebepraxis schon jetzt maximal inhuman.
Die Ampelkoalition ist inzwischen vollständig von ihren Aussagen im Koalitionsvertrag abgerückt, der aktuell eingeschlagene Kurs in der Migrationspolitik könnte direkt aus der Feder von Horst Seehofer stammen. Kein Wunder also, dass Seehofer jüngst den Kurs von Innenministerin Faeser lobte. „Ich begrüße diesen Schritt und wünsche Frau Faeser eine glückliche Hand“ (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/horst-seehofer-lobt-nancy-faeser-in-migrationsfrage-a-e54bc16e-be31-481a-8925-51a0864d303c)
Die Vorhaben der Bundesregierung und die Zustimmung zu den #GEAS-Plänen bedeuten die faktische Abschaffung des Asylrechts. Nach einigen Tagen, in der sich die solidarische Öffentlichkeit in einer Art Schockstarre angesichts der 180°-Wende der Ampelkoalition befand, formulieren immer mehr Personen und Organisationen massive Kritik am Kurs der Bundesregierung.
Der Republikanische Anwaltsverein (RAV) schreibt dazu: „Wir lehnen die de facto Abschaffung des Asylrechts durch die Ampel ab.
Mit den Beschlussvorschlägen zum Europäischen Asylrecht aus dem Bundeskanzleramt bricht die Ampelkoalition mit dem bisherigen Konsens der Politik in Deutschland nach 1945.
Die Lehre aus dem Faschismus war die Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 16a Grundgesetz. Es geht hier nicht um Ideologie, sondern um unsere Unmenschlichkeit, die sich zeigt im Umgang mit Schutzsuchenden. Es geht hier darum, dass wir das Recht beliebig relativieren, je nachdem, wer es in Anspruch nimmt. Dieses Unrecht greift die Grundlagen unserer Gesellschaft an. Kein Kompromiss kann dies rechtfertigen. Es ist Zeit, andere Wege zu gehen, statt immer wieder gescheiterte Abschottungsstrategien zu verfolgen.“ (https://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/erklaerung-des-rav-anlaesslich-des-fluechtlingsgipfels-am-10523-942)
Clara Anne Bünger (DIE LINKE) schreibt: „Zur Erinnerung: Die Ampel wollte einen progressiven Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Jetzt nutzt sie die reaktionäre Stimmung und die Forderungen der Länder, um ihren eigenen Koalitionsvertrag zu umgehen und nie dagewesene Asylrechtsverschärfungen auf den Weg zu bringen.“ In einem Statement zu #GEAS betont auch sie, dass die EU-Pläne faktisch die Beseitigung des Rechts auf Asyl in Europa einleiten.“(https://cms.clarabuenger.de/uploads/Statement_GEAS_f3c84bb0db.pdf )
Inga Matthes vom Deutschen Roten Kreuz schreibt: „Vor über 2 Jahren hab ich unsere Bedenken zum #GEAS-Reformvorschlag hier formuliert, Stichworte: standardisierte Haft, unzureichender Rechtsschutz, mangelnde Garantien für Vulnerable. Neu ist, dass sich die Ampel-Regierung den Vorschlag nun zueigen macht.
Das ist kein Paradigmenwechsel in der #Flüchtlingspolitik, wie er im Koalitionsvertrag angekündigt wurde. Das ist eine Absage ans (noch) geltende Flüchtlingsrecht und an grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien.“ (https://twitter.com/IngaMetaMatthes/status/1655280967169212422)
Ein Aufschrei gerade innerhalb der Grünen bleibt bisher aus, allerdings gibt es vereinzelt scharfe Kritik am Vorgehen der Ampel. So schreibt Erik Marquardt (EU-Parlamentarier, DIE GRÜNEN): „Es ist erschreckend, dass in Brüssel gerade riesige Verordnungen verhandelt werden, die die gesamte Asylpolitik auch in Deutschland maßgeblich ändern, aber kaum jemand berichtet darüber. Stattdessen wird das so getan, als ginge es nur um Registrierung an den Außengrenzen.
Kaum jemand versteht, wie umfassend die Folgen einer Einigung zB bei der Asylverfahrensverordnung wären. Fast alle Menschen, die in Europa momentan Asyl beantragen hätten kaum noch Zugang zu rechtstaatlichen Verfahren, die Ausgrenzung von Schutzsuchenden würde riesig werden.
Dabei gibt es keine realistische Erwartung, dass dadurch weniger Menschen nach Europa fliehen. Die EU-Staaten hätten aber viel mehr rechtliche Mittel, Menschen abzulehnen.“ (https://twitter.com/ErikMarquardt/status/1654901287496843266)
Die LAG Migration und Flucht der Grünen Berlin schreibt: „Wenn Seehofer @NancyFaeser lobt, läuft etwas gewaltig schief. Als Grüne dürfen wir keinesfalls der Inhaftierung von Asylsuchenden, Transitzonen sowie Zulässigkeitsprüfungen zustimmen. Grenzverfahren sind keine Asylverfahren! #GEAS“ (https://twitter.com/MigFluBerlin/status/1655188830251634689)
Und auch der Bundessprecher der Grünen Jugend, Timo Dzenius, reagiert deutlich:
„Die Pläne von @NancyFaeser sind unfassbar. Die Innenminsterin tritt mit ihren Vorschlägen das Grundrecht auf Asyl mit Füßen.“ (https://twitter.com/Dzienus/status/1654893556648034304)
und „Faeser und Lindner wollen um Europa weitere Stacheldrahtzäune bauen. Wer eine europäische Asylpolitik à la Seehofer betreibt, gründet die nächsten Morias.“ (https://twitter.com/gruene_jugend/status/1654893865961234444)
Auch die Jusos reagieren mit scharfer Kritik auf die Pläne der Ampel. Jessica Rosenthal, Vorsitzende der Jusos, sagt im Interview mit dem Spiegel: „Menschlichkeit und humanitäre Verpflichtung spielen in der aktuellen Debatte keine Rolle. Stattdessen spricht die Bundesregierung über Haftlager an den EU-Außengrenzen und schnellere Abschiebungen, das ist einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung unwürdig.“ Die Jusos verurteilen „insgesamt diese Abschottungsdebatte, die an Schäbigkeit kaum mehr zu überbieten ist“ (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bund-laender-fluechtlingsgipfel-juso-chefin-jessica-rosenthal-attackiert-spd-spitze-a-57bd9ce1-b5fe-4833-bea1-15371a6c944e)
Leider sind solche kritischen Positionen ansonsten innerhalb der Grünen und der SPD kaum wahrzunehmen. Weder in Kiel noch im schleswig-holsteinischen Landtag ist auch nur ein Kommentar von seiten der Grünen oder der SPD zu finden. Auch die Kieler Bundestagsabgeordnete und Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Luise Amtsberg, schweigt – und es drängt sich der Verdacht auf, dass angesichts der anstehenden Kommunalwahl schweigen als der bessere Weg zum Stimmenfang gewählt wurde – auf Kosten der Menschen, die am meisten an den Rand gedrängt sind, die am meisten auf Solidarität angewiesen sind. Die neue Linie der Ampel ist ein Skandal. Sowohl die Pläne nach ‚innen‘ als auch die Vorhaben an den EU-Außengrenzen sind menschenverachtend und rassistisch, sie entreißen Geflüchteten ihre Rechte und ihre Würde.
Wir als ZBBS teilen die oben genannten Kritiken und verurteilen das Vorgehen der Bundesregierung aufs Schärfste! Wir fordern die Ampelkoalition auf, umgehend zu ihren Versprechen, die im Koalitionsvertrag gemacht wurden, zurückzukehren! Die Landespolitiker:innen fordern wir auf, sich im Bund entschieden für Geflüchtete einzusetzen, die reaktionären Stimmungsmache zu stoppen und keinen Beschlüssen zuzustimmen, die die jetzt schon inhumanen Bedingungen für Schutzsuchende noch weiter verschärfen. Die Mitglieder der Koalitionsparteien fordern wir auf, auf allen Ebenen, auch auf kommunaler, ihr Schweigen zu beenden und sich entschieden dafür einzusetzen, dass ihre Partei nicht weiter die Abschaffung des europäischen Asylrechts vorantreibt! Wir sagen laut und deutlich: wer zu diesen unmenschlichen Plänen schweigt, stimmt ihnen und der maximalen Ausgrenzung von Schutzsuchenden zu!
Weiterhin schließen wir uns den Forderungen von Pro Asyl an, die über ein Email-Tool auf ihrer Website dazu aufrufen, gegen die Pläne der Ampelpläne zu protestieren und die Parteien der Länderregierungen und die Ministerpräsident:innen aufzufordern, der Beschlussvorschlage der Bundesregierung nicht zuzustimmen.
Pro Asyl ruft ebenso dazu auf, gegen die Reformpläne des #GEAS zu protestieren: „die Zeit drängt, denn schon am 8. Juni wollen die Innenminister:innen im EU-Rat darüber entscheiden! Bitte setzt euch also JETZT mit uns für die Rechte von Geflüchteten ein und schickt über unser Tool E-Mails an die Parteivorstände von SPD, Grünen und FDP.„
Ihr findet das Tool auf https://aktion.proasyl.de/menschenrechte-verschwinden/
ZBBS, 1/05/2023
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