Stellungnahme der Syrischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e.V. (SGS-H)
Der Sturz des Assad-Regimes ist ein historischer Wendepunkt für Syrien – ein Moment, auf den viele lange gewartet haben, der jedoch auch von tiefem Schmerz und Verlust begleitet wird. Nach mehr als fünfzig Jahren Tyrannei und jahrelangen zerstörerischen Kriegen, die das Land und seine Menschen unermesslich gezeichnet haben, stehen wir nun an einem entscheidenden Punkt. Es ist ein Moment der Befreiung, doch zugleich auch der Trauer. Die Freude über die lang ersehnte Freiheit vermischt sich mit dem Kummer über die unzähligen Opfer und das Leid, das die syrische Bevölkerung ertragen musste. Für Millionen von Syrerinnen und Syrern weltweit ist dieser Moment von gemischten Gefühlen durchzogen: Hoffnung auf eine bessere Zukunft, aber auch die Last der Vergangenheit, die immer noch in ihren Herzen spürbar ist.
Dieser Wendepunkt fordert uns alle auf, den Weg in eine neue Zukunft mit Verantwortung, Empathie und dem festen Willen zu gehen, Syrien wieder aufzubauen – nicht nur als Land, sondern als Heimat für all jene, die an den Werten von Frieden und Gerechtigkeit glauben.
Dringender Bedarf an humanitärer Hilfe
Die humanitäre Lage in Syrien ist nach wie vor alarmierend. Besonders die zehntausenden Menschen, die aus den KZ-ähnlichen Haftlagern des Assad-Regimes befreit wurden, benötigen sofortige medizinische Hilfe. Viele von ihnen sind schwer traumatisiert und in einem äußerst schlechten gesundheitlichen Zustand. Es ist eine unmittelbare Notwendigkeit, medizinische Teams in diese Gebiete zu entsenden, um den verletzten und traumatisierten Menschen zu helfen.
Gerechtigkeit als Grundlage des Wiederaufbaus
Gerechtigkeit und die Wahrung der Menschenrechte sind unverzichtbare Voraussetzungen für den Wiederaufbau Syriens. Wir fordern die internationale Gemeinschaft auf, die Verantwortlichen für die Verbrechen des Assad-Regimes zur Rechenschaft zu ziehen und sicherzustellen, dass die syrische Gesellschaft auf den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit aufgebaut wird. Syrien benötigt einen gerechten und inklusiven Wiederaufbauprozess, der alle Teile der Gesellschaft einbezieht.
Verantwortungsbewusste Rückkehrdebatten
Die aktuelle Debatte über die Rückkehr von Syrerinnen und Syrern ist nicht nur unangebracht, sondern auch äußerst enttäuschend – insbesondere für diejenigen, die seit über zehn Jahren hart daran arbeiten, sich ein neues Leben in Deutschland aufzubauen.
Wie realistisch ist es, dass eine Rückkehr unter den aktuellen Bedingungen in Syrien sicher und nachhaltig sein kann? Viele Syrerinnen und Syrer sind längst ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft – Deutsche mit syrischen Wurzeln. Sie möchten eines Tages gerne am Wiederaufbau Syriens mitwirken, jedoch erst, wenn stabile Strukturen vor Ort dies ermöglichen. Viele haben kein Zuhause mehr, da ihre Häuser durch Bombardierungen zerstört wurden. Ihre Kinder können keine Schulen besuchen, und die grundlegenden Lebensbedingungen sind noch immer unzureichend. Ein solcher Wandel braucht Zeit.
Ist dies der richtige Zeitpunkt, um solche Diskussionen zu führen? Oder geht es dabei vor allem darum, populistische Signale im Vorfeld der Bundestagswahl 2025 zu senden?
Bereits am Tag nach dem Sturz des Regimes entbrannte hierzulande eine hitzige und unsachliche Debatte. Manche Politiker diskutieren bereits über die Rückkehr syrischer Staatsangehöriger – sei es freiwillig oder zwangsweise. Diese Diskussion erscheint nicht nur verfrüht, sondern auch gefährlich. Die Lage in Syrien bleibt labil und unberechenbar, und eine klare Einschätzung der Sicherheit vor Ort ist derzeit unmöglich.
Es darf auch nicht vergessen werden, dass die syrische Community in Deutschland mehr als eine Million Menschen umfasst, darunter nicht nur Geflüchtete, sondern auch viele, die auf legalem Wege eingereist sind – Studierende, Arbeitnehmer und hochqualifizierte Fachkräfte. Ein beeindruckendes Beispiel sind die syrischen Ärztinnen und Ärzte, die in Deutschland einen unschätzbaren Beitrag leisten. Laut der Bundesärztekammer arbeiteten Ende letzten Jahres 5.758 syrische Medizinerinnen und Mediziner in Deutschland, davon knapp 5.000 in Krankenhäusern. Sie stellen die größte Gruppe ausländischer Ärzte und sind ein unverzichtbarer Teil des deutschen Gesundheitssystems.
Können wir es uns wirklich leisten, auf solche Fachkräfte zu verzichten, während wir gleichzeitig nach Lösungen für den Fachkräftemangel suchen?
Deutschland hat in den letzten Jahren wichtige Schritte unternommen, um gezielt Fachkräfte anzuwerben. Maßnahmen wie die Vereinfachung der Einwanderungsregeln und die geplante Aufhebung von Arbeitsverboten für Asylbewerber zeigen, wie humanitäre Hilfe und wirtschaftliche Stärke miteinander verbunden werden können. Diese Fortschritte dürfen nicht durch übereilte Rückkehrdebatten gefährdet werden.
Für viele Syrerinnen und Syrer in Deutschland bleibt die Frage der Rückkehr eine zutiefst persönliche Entscheidung, die von der Sicherheit und Stabilität vor Ort abhängt. Viele wünschen sich, eines Tages freiwillig zurückzukehren, um beim Wiederaufbau Syriens mitzuwirken. Doch solche Überlegungen erfordern Zeit, Geduld und vor allem differenzierte Diskussionen. Die Sicherheit, Perspektiven für den Wiederaufbau und die Unterstützung von Rückkehrwilligen müssen sorgfältig geprüft werden. Gleichzeitig gilt es, klare Regeln zu wahren: Wer in Deutschland leben möchte, muss sich an die Gesetze halten. Für straffällige Personen müssen faire und sichere Lösungen gefunden werden. Doch pauschale Entscheidungen schaden sowohl den Betroffenen als auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Appell an die internationale Gemeinschaft
Wir rufen die internationale Gemeinschaft dazu auf, Syrien weiterhin in seinem Übergangsprozess zu unterstützen. Insbesondere benötigen wir eine langfristige Strategie für den Wiederaufbau und die Stabilisierung des Landes. Dies muss die Bereitstellung von Ressourcen für Infrastruktur, medizinische Hilfe und Bildung umfassen, um eine nachhaltige und gerechte Zukunft zu sichern.
Die Zeit ist gekommen, sachlich und verantwortungsbewusst zu handeln. Wir müssen die Entwicklungen in Syrien genau beobachten und sicherstellen, dass der Weg in eine friedliche und gerechte Zukunft mit Bedacht und ohne unnötige hastige Entscheidungen beschritten wird.
Abschließend möchten wir an die Menschlichkeit und die tiefe Verantwortung erinnern, die wir alle tragen. Inmitten der Zerstörung und des Leids, das das syrische Volk erfahren hat, sind es Hoffnung, Mitgefühl und der Wille zu heilen, die den Weg zu einer besseren Zukunft ebnen können. Wir stehen gemeinsam für eine syrische Gesellschaft, die Frieden, Gerechtigkeit und Respekt lebt – nicht nur in Syrien, sondern auch in Deutschland und weltweit. Die Reise ist lang und voller Herausforderungen, doch die Solidarität der Menschen wird die Grundlage für die Erneuerung und den Wiederaufbau Syriens sein.
Mit Dank und freundlichen Grüßen
Die Syrische Gemeinde in Schleswig-Holstein
Kiel, den 12.12.2024
Kontakt:
Syrische Gemeinde in Schleswig-Holstein e.V. (SGS-H)
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